EINE STRAFE JUNGER WäHLER FüR DIE GRüNEN

Bei der Europawahl schneiden Union und AfD bei den 16- bis 24-Jährigen am besten ab – während die Grünen einen dramatischen Absturz verzeichnen. Jugendforscher Hurrelmann erklärt, wie die junge Generation beim Wählen tickt.

Als vor einigen Wochen die Studie „Jugend in Deutschland 2024“ vorgestellt wurde, war der Aufschrei groß: Einen deutlichen Vorsprung für AfD und Union hatten die Studienmacher um die Jugendforscher Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann dort ausgemacht, von einem regelrechten „Rechtsruck“ bei den 14- bis 29-Jährigen war die Rede. Ein Ergebnis, das von Wahlforschungsinstituten wegen angeblicher methodischer Mängel zum Teil heftig kritisiert wurde.

Die Ergebnisse der Europawahl unter den Erst- und Jungwählern aber zeigen, dass der Trend, den die Jugendforscher ausgemachten, sich auch in realen Wahlergebnissen manifestiert.

Geradezu erdrutschartig haben sich die Mehrheitsverhältnisse bei den Jungwählern, zu denen erstmals auch 16- und 17-Jährige gehörten, verändert. Die Grünen, die bei der Europawahl 2019 bei den unter 25-Jährigen noch mit 34 Prozent beliebteste Partei gewesen waren, sackten 23 Punkte ab und landeten laut Hochrechnungen von Infratest Dimap bei nur noch elf Prozent. Die Union hingegen legte um fünf Punkte auf 17 Prozent und die AfD um elf Punkte auf 16 Prozent zu. Und die SPD erhielt von den Jungwählern mit neun Prozent genauso viel Zuspruch wie die paneuropäische ökoliberale Jungpartei Volt, die mit einem frischen Wahlkampf in Social Media und plakativen Botschaften („Sei kein Arschloch“) mancherorts halbe Schulklassen für sich gewinnen konnte.

Für Jugendforscher Hurrelmann von der Berliner Hertie School ist das Ergebnis keine Überraschung. „Wir wissen, dass junge Wähler nicht ideologisch festgelegt sind, sondern sehr direkt nach Themen urteilen“, sagte Hurrelmann WELT. „Sie wählen die Parteien danach aus, ob sie plausibel und in sich stimmig für bestimmte Inhalte stehen, die für sie selbst gerade von Bedeutung sind.“

Bei der Europawahl 2019 hätten die Grünen vor allem deshalb so gut abgeschnitten, weil die Themen Umwelt und Klimawandel sehr stark im Vordergrund gestanden hätten – ähnlich wie bei der Bundestagswahl 2021. Dort habe neben den Grünen auch die FDP mit ihrer Konzentrierung auf Digitalisierung und die Freiheitsrechte nach der Corona-Pandemie bei den Jungwählern stark punkten können. „Im ersten Jahr sah es auch so aus, dass das ein spannendes Bündnis von sehr unterschiedlichen Strömungen ist“, sagt Hurrelmann. Die Zerstrittenheit, die die Regierung inzwischen nach außen ausstrahle, komme bei den jungen Wählern aber nicht an.

Die Lebenssituation scheint sich zu verschlechtern

Hinzu komme, dass die damaligen Themen inzwischen in den Hintergrund gerückt seien. „Ganz oben auf der Agenda steht inzwischen die Angst vor der Ausweitung des Krieges, die Flüchtlingsströme, der teure und knappe Wohnraum, die Sorge, dass der Wohlstand sich nicht halten lässt und das Rentensystem zusammenbricht“, sagt Hurrelmann. Bei diesen Themen könnten die Union und AfD aus der Oppositionsrolle heraus derzeit stärker und pointierter punkten. Hinzu komme eine Grundstimmung, dass die Lebenssituation sich eher verschlechtere als verbessere.

„Und das Ganze wird völlig nachvollziehbar und völlig demokratisch der amtierenden Regierung angelastet, die das alles nicht auf die Reihe kriegt und sich zudem auch noch streitet.“ Dazu trage womöglich auch der Eindruck bei, dass die Umsetzung der Umwelt- und Klimaziele mühselig und bürokratisch herüberkomme, etwa beim Heizungsgesetz, sagt Hurrelmann. „Aber im Großen und Ganzen werden die Grünen jetzt an der Wahlurne dafür bestraft, dass sie die anderen Themen, die die jungen Leute gerade im Moment sehr stark beschäftigen, nicht aufnehmen und in einer ähnlichen, klaren und glaubwürdigen Weise vertreten.“

Auch das gute Abschneiden von Neu- und Kleinparteien wie Volt oder der Tierschutzpartei sei vor diesem Hintergrund zu betrachten, sagt Hurrelmann. „Es ist das Privileg des Erstwählenden, dass man noch nicht in persönlicher Konsistenz denken und sich die Frage stellen muss, ob man sich untreu wird oder sich vor sich selbst rechtfertigen muss.“ Daher werde bei Jungwählern tendenziell das ganze Parteispektrum ausgeschöpft. „Junge Leute, die zum ersten Mal an die Wahlurne gehen, sind sozusagen spontane Demokraten“, sagt Hurrelmann. „Die schauen einfach, wofür die Parteien stehen und entscheiden sich dann.“

Für Hermann Binkert, Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa, ist der Volt-Höhenflug aber noch kein Beleg dafür, dass die Partei die Grünen bereits ernsthaft als Partei der Jugend ablösen könnte. „Junge Leute sind grundsätzlich eher bereit, mal was anderes auszuprobieren. Aber daraus jetzt zu schließen, dass das jetzt die neue Jugendpartei wird, wäre ein bisschen verfrüht.“

Auch einen klaren Rechtsruck kann Binkert nicht erkennen. „Die einen sind eher Mitte-rechts und die anderen eher Mitte-links. Die Grünen hatten vor fünf Jahren den großen Vorteil, dass das Thema Klimaschutz weit oben war. Bei den jetzt aktuellen Themen Frieden, Migration, Inflation sind sie inhaltlich schwächer. Und das Thema Migration läuft voll für die AfD, genauso wie das Wirtschaftsthema für die CDU läuft.“

Eine Sonderstellung nimmt für Binkert das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ein, das bei den Unter-24-Jährigen aus dem Stand auf sechs Prozent kam. „Auch sie profitieren von dem Migrationsthema, sind aber gleichzeitig eine interessante Mischung aus sozialer Wirtschaftspolitik und konservativer Gesellschaftspolitik – hier gab es bislang eine Angebotslücke.“ Auch die Skepsis gegenüber Waffenlieferungen für die Ukraine, die BSW und AfD gleichermaßen bedienten, falle bei Jungwählern auf fruchtbaren Boden.

Jugendforscher Hurrelmann mahnt dennoch zu Wachsamkeit. „Es ist ein Kernmerkmal demokratischer Prozesse, dass die politische Stimmung mal mehr nach links und mal mehr nach rechts geht“, sagt er. Eine problematische Komponente bekomme es hingegen, wenn junge Wähler verschwörungstheoretische, nationalistische, autoritaristische und sogar menschenverachtende Strömungen einfach in Kauf nähmen, warnt Hurrelmann. „Hier müssen wir schon genau hinschauen.“

2024-06-10T16:24:34Z dg43tfdfdgfd