BELARUS: DIE KALTE HäRTE DER KRIEGSZEIT

In einer kleinen Wohnung im Zentrum von Minsk steht seit zweieinviertel Jahren ein kleiner, geschmückter Plastikweihnachtsbaum. Damit wollte Xenija Luzkina zusammen mit ihrem Sohn das Neujahrsfest feiern. Doch am 22. Dezember 2020 nahmen Alexandr Lukaschenkos Sicherheitskräfte die Journalistin und Historikerin fest. Lange wurde Luzkina wie viele andere, die im Sommer jenes Jahres gegen den Machthaber aufbegehrten, im Untersuchungsgefängnis Nummer 1 der belarussischen Hauptstadt festgehalten. Luzkina hatte sich im Koordinationsrat der Lukaschenko-Gegner um Verbindungen zur Presse gekümmert. Dafür wurde Luzkina im vergangenen September unter Verschwörungsvorwürfen zu acht Jahren Haft verurteilt, im Januar zudem auf eine Liste von „Extremisten“ des Innenministeriums gesetzt.

Seit Mitte Januar ist sie in der „Besserungskolonie Nummer 4“ inhaftiert, einem Straflager für Frauen im südostbelarussischen Gomel. Dort geht es der Neunundreißigjährigen immer schlechter. Ihr Vater, Oleg Luzkin, berichtet der F.A.Z. von zwei Ohnmachtsanfällen. Vor Kurzem überstand Luzkina eine beidseitige Lungenentzündung. Zudem hat die Gefangene seit Langem ein Geschwulst im Kopf, das in der Haft weiter gewachsen ist; dennoch bestanden Lukaschenkos Ankläger auf der Inhaftierung. Gerade wartet Luzkina auf eine MRT-Untersuchung; wann sie erfolgt, ist unklar. Ihr zwölf Jahre alter Sohn konnte sie kurz vor dem vorigen Neujahrsfest in einem Gomeler Untersuchungsgefängnis besuchen. Den Weihnachtsbaum in Minsk will er erst zusammen mit seiner Mutter abbauen. „Mein Enkel verbietet mir sogar, den Schmuck abzunehmen“, sagt Oleg Luzkin.

Es ist noch nicht lange her, dass die Brutalität schockierte, mit der Lukaschenko die Proteste gegen seine Herrschaft niederschlug. Als es noch nicht galt, Sanktionspakete gegen Russland auf den Weg zu bringen, stand Belarus weit oben auf der Tagesordnung in Europa. Westliche Politiker übernahmen symbolische Patenschaften für die wachsende Zahl von Lukaschenkos politischen Gefangenen. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth etwa, damals Vizepräsidentin des Bundestages, wurde die „Patin“ von Marija Kolesnikowa. Diese war als einzige der drei Frauen, die 2020 Lukaschenko herausforderten, in Belarus geblieben; sie zerriss ihren Pass, als der Geheimdienst sie in die Ukraine schaffen wollte.

Nur noch Anhängsel der russischen Bedrohung?

Die 41 Jahre alte Kolesnikowa wurde ebenfalls unter Verschwörungsvorwürfen zu elf Jahren Haft verurteilt und vom KGB auf eine Liste von „Terroristen“ gesetzt. Sie wird in demselben Straflager wie Xenija Luzkina festgehalten. Ende vorigen Jahres musste Kolesnikowa wegen eines Bauchleidens operiert werden, tagelang gab es große Sorgen um sie. Mitte Januar wurde sie laut den – selbst verfolgten – Menschenrechtlern von Wjasna wieder zur Arbeit im Straflager herangezogen.

Die beiden Frauen sind zwei von derzeit 1445 politischen Gefangenen auf Wjasnas Liste. Nahezu täglich kommen neue Opfer von Lukaschenkos Rachefeldzug hinzu. So wurde die 59 Jahre alte Minskerin Natalja Dulina, eine frühere Italienisch-Dozentin, wegen Teilnahme an Protesten respektive „grober Ordnungsstörungen“ zu dreieinhalb Jahren Straflager verurteilt. Doch Nachrichten wie diese vom vorigen Freitag gehen unter in der Flut des Justizgrauens in Belarus und des Kriegsgrauens in dessen südlichem Nachbarland. Im Ukrainekrieg dient Belarus Russland als Aufmarschgebiet; Gerüchte, Moskau werde Minsk zu einem Kriegseintritt zwingen, haben sich bisher nicht bestätigt. Aber der Seniorpartner im sogenannten Unionsstaat nutzt auch die belarussischen Militärflughäfen für seine Luftwaffe. Nach außen wird Belarus mehr denn je als bloßes Anhängsel Russlands wahrgenommen, gleichsam als Appendix einer großen, russischen Bedrohung.

Das ist auch ein Problem für den machtbewussten Lukaschenko. Nach innen kann er sich an seinen Gegnern rächen und seinen Machtapparat mit Abhängigkeit und Angst gefügig halten. Dazu dehnt Lukaschenko gerade die Todesstrafe, die in Belarus als einzigem europäischen Land weiter verhängt und vollstreckt wird, auf Fälle von „Verrat“ durch Staatsdiener und Soldaten aus. Bezeichnenderweise tritt das Gesetz dazu am 25. März in Kraft, wenn Regimegegner den „Tag der Freiheit“ feiern, da an jenem Tag 1918 die kurzlebige, unabhängige Belarussische Volksrepublik gegründet wurde.

Reisen nach Iran, Simbabwe und China

Aber nach außen kann Lukaschenko seine frühere „Multivektorenpolitik“ nicht mehr aufnehmen. Der – längst exilierte – Belarus-Fachmann Artjom Schrajbman macht bei dem Autokraten eine „Nostalgie“ für die noch gar nicht so ferne Vergangenheit aus, in der Amerikaner wie John Bolton und Mike Pompeo, damals Nationaler Sicherheitsberater respektive Außenminister, Minsk besuchten. Lukaschenko reiste viele Jahre kaum in andere Länder als Russland. Doch in den vergangenen Monaten hat er Fernreisen für sich entdeckt, besuchte Simbabwe, die Vereinigten Arabischen Emirate, China und Iran. Schrajbman sieht darin das Ziel, „allen zu zeigen“, dass die westlichen Isolierungsversuche gescheitert seien und Minsk andere Partner als Russland habe.

Doch die Kluft zwischen Lukaschenkos „außenpolitischen Ambitionen“ und der „Minsker Irrelevanz in den Augen derer, deren Aufmerksamkeit er sucht“, sei größer denn je. Die jetzt umworbenen Partner könnten die alten, in Jahrzehnten aufgebauten Handelsbeziehungen etwa nach Polen, Lettland und Litauen nicht kompensieren. Schrajbman sieht im Westen, der sich lange bemüht habe, Belarus trotz dessen „archaischen und prorussischen Regimes“ an sich zu binden, jetzt kein Interesse mehr an Nuancen, nur noch „die kalte Härte der Kriegszeit“.

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