Als „Kriegstreiber“ und „Heuchler“ wird Verteidigungsminister Boris Pistorius in Leipzig beschimpft. Immer wieder stören linksradikale Aktivisten seinen Wahlkampfauftritt.
„Stopp Nato!“, „Nein zur Nato“ ist auf Transparenten vor dem Biergarten des Leipziger Felsenkellers zu lesen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat am Montagabend einen Stand aufgebaut, die DKP wirbt für „Frieden mit Russland“ und fordert: „US-Atomwaffen raus.“ Die Proteste richten sich gegen Boris Pistorius, den Bundesverteidigungsminister, der zu einer SPD-Wahlkampfveranstaltung angekündigt ist. Sachsen wählt am 1. September einen neuen Landtag.
Etwa 300 Menschen haben sich versammelt, unter und neben einem Zelt mit rot-weißem Dach. Pistorius und Sachsens SPD-Spitzenkandidatin, Sozialministerin Petra Köpping, nehmen auf Barhockern Platz. Keine langen Reden, dafür Fragen und Antworten, so lautet das Konzept der Veranstaltung. Doch das Dialogformat geht nicht recht auf. Immer wieder brüllen Aktivisten ihre Parolen in Richtung Bühne, versuchen mit Schlachtrufen, Pistorius und Köpping zu unterbrechen.
Der Appell der Moderatorin, sich mit Respekt zu begegnen, verfängt an diesem Abend nur bedingt. Eine kleine, laustarke Minderheit versteht es, die Veranstaltung empfindlich zu stören. Die Aktivisten werfen Pistorius vor, für die tödliche Angriffen auf Menschen im Gazastreifen verantwortlich zu sein. Die islamistische Terrororganisation Hamas wird als „Widerstandsgruppe“ bezeichnet.
„Heuchler, Heuchler!“ skandieren die vorwiegend jungen Leute, beschimpfen Pistorius als „Kriegstreiber“. Der Minister hat die große Mehrheit hinter sich, erhält Applaus, als er einem Schreihals zuruft, Franz Josef Strauß habe mal gesagt: „Dein Kehlkopf ersetzt noch keinen Kopf!“
„Wo bleibt Ihr Respekt für die Veranstaltung?“ fragt Pistorius eine junge Frau, die sich als Anwältin der Menschen im Gazastreifen versteht und permanent ihre Parolen brüllt. Erkennbar verärgert ruft Pistorius: „Wenn das die Zukunft unserer Demokratie ist, dann: Gute Nacht!“
Gegen 18.30 Uhr treffen schwer ausgerüstete sächsische Polizisten auf dem Gelände ein. Unter akustischer Begleitung von „Klassenkampf-Parolen“ beantworten Pistorius und Köpping die ihnen gestellten Fragen. Es geht unter anderem um Russlands Krieg gegen die Ukraine, das Schicksal ausreisepflichtiger, integrierter und arbeitender Flüchtlinge, die leeren Kleinstädte in der Fläche.
Wenn Köpping mit Empathie in der Stimme dafür wirbt, dass Flüchtlinge, „die hier arbeiten, hierbleiben dürfen“ sollen oder vor den Gefahren durch die AfD warnt, erhält sie Applaus im Publikum, nicht aber bei der Fraktion der lautstarken Minderheit. „Sie bomben da“ wirft ein Aktivist Pistorius mit Blick auf den Gazastreifen vor.
Als der Minister zu einer Reaktion ansetzt, sogleich aber wieder unterbrochen wird, hält er den Aktivisten vor: „Sie quäken doch dauernd dazwischen, verflixt und zugenäht!“ Als „unfassbar grausam“ bezeichnet Pistorius das Schicksal der Menschen im Gazastreifen. Israel aber habe ein Selbstverteidigungsrecht. „Nicht Sie entscheiden, was richtig und falsch ist, sondern die Gerichte“, ruft Pistorius.
Was Sie mir heute bieten, habe ich noch nicht erlebt.
Boris Pistorius (SPD), Verteidigungsminister, zu Störern bei einer Veranstaltung in Leipzig
Eine junge Aktivistin beklagt „die Kriege, die Deutschland auslöst“. Als es wieder laut wird, sagt Pistorius, das sei doch „kein demokratischer Diskurs ... Sie wollen gar keinen Austausch.“ Was im Gazastreifen geschehe, sei nicht in Ordnung, da werde drüber zu sprechen sein. Wieder Tumulte. Er habe ja schon viele, hitzige Debatten erlebt, sagt der Berufspolitiker Pistorius: „Aber so was, was Sie mir heute bieten, habe ich noch nicht erlebt.“ Eine weitere Aktivistin mahnt mit ironischem Unterton „eine demokratische Debatte mit dem Kriegstreiber“ an.
Die Moderatorin bittet darum, auf Beleidigungen zu verzichten. „Soll ich diskutieren mit jemandem, der mich Kriegstreiber nennt?“ fragt Pistorius. „Nein“, ruft es aus dem Publikum. „Nö, muss ich nicht“, beantwortet Pistorius seine rhetorische Frage. Erneutes Geschrei. „Gott im Himmel“, entfährt es Pistorius. Die Polizei führt einige der laustarken Störer vom Gelände. Eine junge Frau filmt die Szenen.
Immer wieder ist ein Dialog möglich. Pistorius erklärt seine Haltung zur amerikanischen Bewaffnung in Deutschland, seine Philosophie der Abschreckung. Als erneut „Kriegstreiber“-Rufe erklingen, ruft der Minister: „Ich bin sehr froh, dass Sie nicht über dieses Land bestimmen!“
Die Abschluss-Statements sind gesprochen, da ergreift Erwin Leister, 99 Jahre alt, das Mikrofon. Plötzlich ist es viel ruhiger als zuvor. Leister, einst Theaterregisseur in Leipzig, kann mit derlei Szenen umgehen. Doch auch ihm steht ein gewisses Entsetzen im Gesicht. „Als Resümee des heutigen Abends“, sagt Leister: „Wir alle, auch ich, müssen Toleranz lernen.“ Eindringlich bittet er: „Seien Sie tolerant!“ Von den Störer fehlt da längst jede Spur. Vor dem Biergarten demonstrieren noch immer Wagenknecht-Partei und DKP.
2024-07-22T20:33:58Z