Es war schon dunkel, aber da war dieses Wirtshaus, aus dem das Licht noch auf den Gehsteig schien. „Kroatische Spezialitäten. Holzkohlen Grill.“ Günstig gelegen direkt unter der Haltestelle Bellevue in Berlin, deren S-Bahnen laut Fahrplan im Fünfminutentakt direkt über das Lokal hinwegdonnern. Aber es ist ja Berlin, da gibt es auch mal längere Pausen.
Ein kleiner Tisch am Eingang ist noch frei, und die Welt kroatischer Spezialitäten tut sich auf. Ćevapčići natürlich. Oder, seit den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auf deutschen Speisekarten kaum noch gesichtet: „Lustiger Bosniake“ – Steak, mit Schinken und Käse gefüllt. Da lacht der Bosniake. Die Putenleber ist von der Pute, die Zigeunerleber vom Rind. Wie auch der Zigeuner-Spieß, der Zigeuner-Teller und, ohne Bindestrich, die Zigeunerplatte. Was sich hinter oder in Gerichten wie „Räuberfleisch“ und „Schindelbraten“ verbirgt, entnimmt man am besten dem Kleingedruckten auf der Karte.
Die „Puszta-Platte“ und die allen Fälschungen seit jeher überlegene „original ungarische Gulaschsuppe“ ehren die guten alten Zeiten, da Kroatien noch zu Ungarn gehörte. Prebranac (gekochte Bohnen mit Schweinefleisch) könnten Puristen für ein ur- oder gar großserbisches Gericht halten, und auch die Balkanleber mit Knoblauch hätte nach der reinen mitteleuropäischen Lehre in einem kroatischen Restaurant recht eigentlich nichts zu suchen. Das Schweinemedaillon „Matuschka“ wiederum (oder war es Bratuschka?) ist in diesen Zeiten ein gewagter Name für ein kroatisches Gericht, Panslawismus und Mütterchen Russland hin oder her. Aber die Karte bietet auch uralte kroatische Köstlichkeiten, die alles wieder wettmachen: Currywurst, Eisbein mit Sauerkraut, Spaghetti Bolognese. Darauf einen Freilandeierlikör, und die Welt ist in Ordnung.
Bemerkenswert am „Holzkohlen Grill“ ist aber nicht das Essen (gegen das hier ebenso wenig etwas gesagt sein soll wie gegen die wieselflink-eilfertigen und höflichen Kellner des Hauses), sondern seine Reklame. Im Namenszug wirbt das Restaurant nämlich, genau in der Mitte zwischen den Worten „kroatische“ und „Spezialitäten“, mit einem großen weiß-rot-weißen Schachbrettmuster. Was das bedeutet, wissen fast alle, seit Kroatien mit schachbrettgemusterten Trikots bei der Fußball-WM 2018 Vizeweltmeister und im vergangenen Jahr ehrenvoller Dritter wurde: Schachbrett gleich Kroatien, Kroatien gleich Schachbrett. Es ist ein einprägsames Markenzeichen, so wie Bayerns weißblaue Rautenflagge.
Allerdings gibt es einen kleinen Unterschied zwischen den Trikots, in denen Luka Modrić und seine Mitkicker sich zu hohen Weihen emporkämpften, und der Leuchtreklame des „Holzkohlen Grill“ in der Flensburger Straße zu Berlin. Bei den Fußballtrikots, ebenso wie im offiziellen Wappen der Republik Kroatien, beginnt das Muster oben links mit einem roten Feld. Das obere linke Feld des Restaurantschachbretts dagegen ist weiß.
Na und? Was macht das schon für einen Unterschied? Tatsächlich wird, wer mit den Finessen südosteuropäischer Heraldik und Geschichte nicht vertraut ist, keinen Unterschied darin erkennen. Doch zufällig ist die Abweichung in der Farbanordnung keineswegs, und bedeutungslos ist sie auch nicht, im Gegenteil: Hier wird mitten in Berlin ein versteckter Code präsentiert, bei dem noch dem lustigsten Bosniaken die Zigeunerleber im Halse stecken bleiben kann. Denn Schachbrettmuster ist nicht gleich Schachbrettmuster. Zumindest nicht im kroatischen Fall. Es ist vielmehr eine Frage der Ideologie.
Die „Šahovnica“, wie das staatstragende Muster auf Kroatisch heißt, gibt es seit Jahrhunderten. Einer Legende nach geht sie auf den mittelalterlichen kroatischen König Držislav zurück, der zwar wie seine Landsleute arm an Vokalen, dafür aber angeblich ein exzellenter Schachspieler war. Er soll in venezianische Gefangenschaft geraten sein und sich seine Freiheit erspielt haben, indem er dreimal gegen den damaligen Dogen von Venedig im Schach gewann. Aus Dankbarkeit soll der König ein Schachbrett ins Landeswappen aufgenommen haben.
Das ist zwar nachweislich falsch, weil Držislav in vorheraldischer Zeit lebte, als es noch keine Wappen gab. Aber jahrhundertealte Belege für das kroatische Wappen gibt es tatsächlich. Im Zentrum von Innsbruck, der Hauptstadt Tirols, ziert es ein Gewölbe aus dem Jahr 1495, beginnend oben links in Weiß. Auf dem Dach einer Kirche in Zagreb gibt es ein Schachbrettmuster vom Ende des 19. Jahrhunderts, das ebenfalls mit einem weißen Feld beginnt. Andere historische Darstellungen beginnen in Rot. Es geht wild durcheinander.
Das Muster war nämlich über Jahrhunderte hinweg nicht kodifiziert, es gab also keine offizielle Form davon. Eine verbindliche Reihenfolge wurde erstmals im April 1941 festgelegt – von den kroatischen „Ustascha“, einer faschistischen Gruppierung, die nur mithilfe Hitlers an die Macht gelangte und im sogenannten „Unabhängigen Staat Kroatien“ bis 1945 eine Terrorherrschaft nach nationalsozialistischem Vorbild errichtete. Exakte Zahlen liegen nicht vor, aber sicher ist, dass auf dem Gebiet dieses Staates Hunderttausende Menschen ermordet oder vertrieben wurden.
Vor allem Serben, Muslime und Juden, aber auch Kroaten, die als nicht linientreu galten. Im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac, dem größten nicht von Deutschen betriebenen Todeslager des Zweiten Weltkriegs, wurden etwa 70.000 Menschen getötet. Mangels Gaskammern geschah das oft durch die Wachtrupps direkt. Wo Seuchen und Krankheiten nicht das Werk erledigten, wurden Beile, Äxte und Messer eingesetzt. All das geschah im Zeichen des Schachbrettmusters – mit einem weißen Feld oben links, das bei den Ustascha allerdings noch von einem großen U umrandet war.
Als Titos Partisanen 1945 ihr eigenes Regime errichteten und mit einer Terrorherrschaft einläuteten, indem sie Zehntausende ihrer früheren Gegner abschlachteten, nahmen sie die Šahovnica nicht in Mithaftung. Auch in sozialistischen Zeiten fungierte sie als Wappen Kroatiens beziehungsweise der kroatischen Teilrepublik innerhalb von Jugoslawien. Nun allerdings wieder ohne das mörderische U und fast immer beginnend mit einem roten Feld. Der Fußballklub Dinamo Zagreb führte das Wappen auf den Trikots, natürlich mit rotem Quadrat zuerst, und zur Sicherheit noch mit einem roten Stern dazu. Niemand nahm Anstoß daran.
Als Jugoslawien zerfiel und Kroatien sich die Unabhängigkeit erkämpfte, legte der erste Präsident Franjo Tudjman, ein zum kroatischen Nationalisten gewandelter ehemaliger Partisanenkämpfer, großen Wert darauf, die Anordnung aus sozialistischer Zeit beizubehalten. Im Dezember 1990 ließ Tudjman festlegen, dass Kroatiens historisches Wappen das Schachbrettmuster sei, und zwar so, „dass das erste Feld in der oberen linken Ecke des Schildes rot ist“, wie es im Gesetz heißt. Tudjman distanzierte sich in diesem Fall klar vom Ustascha-Regime.
Die Farbfolge mit weißem Quadrat zu Beginn ist also nicht offiziell – und in Österreich, wo viele Kroaten leben, ist sie seit einigen Jahren sogar illegal. Im Jahr 2018 legte die damalige Regierung von Bundeskanzler Sebastian Kurz und seinem Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ ein Verbot fest. Das Schachbrettmuster in weiß-rot-weißer Anordnung wurde von Wien als Symbol einer Ideologie eingestuft „die demokratischen Grundwerten widerspricht“. Ebenfalls verboten wurden Symbole von Terrorgruppen wie dem „Islamischen Staat“ oder Al-Qaida, der türkischen „Grauen Wölfe“, von Hamas und Hizbullah.
Wenn heute also jemand noch das alte Schachbrettmuster in weiß-rot-weißer Ausführung verwendet, was bedeutet das? Der an der Universität Leicester lehrende Historiker Alexander Korb hat zur Geschichte des faschistischen kroatischen Staates geforscht und ein Buch darüber geschrieben. Er sagt: „Die Verwendung der Symbolik ist in erster Linie ein Signal, dass man den ,Unabhängigen Staat Kroatien‘ von 1941 bis 1945 für ein historisch legitimes Projekt hält.“ Ein Verbot wie in Österreich hält er dennoch nicht für angebracht. Zwar signalisiere das Wappen mit weißem Einstieg Zustimmung zu einem faschistischen Staat, „aber die Indizierung von Fahnen und Wappen mit der falschen Farbe oben links würde lächerliche Züge annehmen – die Behörden und die Befürworter eines Verbots würden sich zwangsläufig blamieren“.
Florian Bieber, Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien in Graz, ist da strikter. „Ein solches Symbol sollte im öffentlichen Raum, gerade in Deutschland und Österreich, nicht akzeptabel sein“, sagt er. Das Wappen mit weißem Feld am Beginn „signalisiert eine Unterstützung für das Ustascha-Regime oder für rechtsextreme Gruppen, die sich darauf berufen. Die Benutzung des Schachbrettmusters mit dem weißen Feld ist eindeutig mit einer rechtsextremen Bedeutung belegt.“ Das Symbol sei zwar viel älter als die faschistische Ideologie, lasse sich in dieser Farbanordnung seit 1945 aber „nicht mehr von Faschismus, Kollaboration und Völkermord trennen“.
Petar Vujčić, der Inhaber des Restaurants, hat zwar auf schriftliche Fragen zu seinem Wappen nicht geantwortet, ist bei einem Telefonat am Donnerstag aber äußerst freundlich. Bei ihm, erläutert Herr Vujčić, arbeiteten auch Bosnier und Serben, von Nationalismus könne also keine Rede sein. Sein Restaurant habe er im Übrigen schon seit 1981. „Das hat mit Ustascha nichts zu tun, um Gottes willen!“, sagt er zu seinem Wappen, wenn auch mit einer kuriosen Begründung: „Die Ustascha hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben, und das war’s.“
Alles vorbei und nicht mehr wahr also? Mit diesem Argument könnte man auch Hakenkreuze wieder nutzen. Schließlich sind sie schon auf Vasen aus minoischer Zeit nachgewiesen, und die Nazis sind nicht mehr an der Macht. So einfach sei es aber nicht, sagt Ivo Goldstein, Professor an der Universität Zagreb und einer der bekanntesten Historiker Kroatiens: „Das Schachbrettmuster ist eines der Symbole in dem Krieg zwischen der extremen kroatischen Rechten und der liberalen, demokratischen Gesellschaft. Es gibt keinen Zweifel: Wer heute ein Schachbrettmuster verwendet, das mit einem weißen Feld beginnt, erklärt sich selbst zum Neo-Ustascha.“
Für den Historiker Goldstein ist das Thema nicht nur Geschichte, sondern Familiengeschichte. Sein jüdischer Großvater wurde im KZ von den Ustascha ermordet. Sein Vater Slavko überlebte den Holocaust, indem er sich den Partisanen anschloss. Unter dem Titel „1941. Das Jahr, das nicht vergeht“ hat der 2017 gestorbene Slavko Goldstein seine in viele Sprachen übersetzte Lebensgeschichte aufgeschrieben.
Über jene, die noch heute das anfangs weiße Schachbrettmuster verwenden, sagt der Sohn Ivo: „Solche Leute erzählen gern, sie seien keine Ustascha, sondern einfach nur gute kroatische Patrioten – aber das stimmt nicht. Die Menschen sollten wissen, dass dieses Symbol nichts mit kroatischem Patriotismus zu tun hat, sondern das Gegenteil davon ist. Die Ustascha waren eine Bande von Verbrechern und Verräter der kroatischen Sache. Sie haben die halbe kroatische Küste an Italien abgetreten. Wie kann man sich Kroatien vorstellen ohne die Küste und die meisten seiner Inseln?“
Doch auch Ivo Goldstein hält nichts von einem Verbot nach österreichischem Muster. „Die beste Antwort besteht darin, die Menschen darüber zu informieren, was dieses Symbol bedeutet“, sagt er. Außerdem werde schließlich niemand gezwungen, ein Lokal zu besuchen. „Wenn mich jemand in ein solches Restaurant einladen würde, würde ich vorschlagen: ,Lass uns gehen und ein anderes finden.‘“
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